Der Zirkusreiter – Teil 6

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Sechster Teil

Meine Worte haben die Wirkung einer Bombe.
»Wie meinst du das?«, fragt er gefährlich ruhig.
Fahrig beginne ich damit, mich wieder anzuziehen. Plötzlich ist es mir unangenehm, nackt neben ihm zu sitzen.
»Wie ich es gesagt habe«, murmle ich dabei.
Grob packt er mich am Handgelenk.
»Du nennst mich einen Dieb! Ich will verdammt nochmal wissen, warum.«
Ich entreiße ihm meine Hand. Schön langsam werde ich auch wütend.
»Das sieht man doch, dass da was nicht stimmt. Die vier tollen Rappen hast du doch nicht durch Auftritte in einem windigen Wanderzirkus bezahlt?!«
»Deshalb bin ich also gleich ein Dieb, ja? Ich glaube ja eher, dass du langsam genug von deinem kleinen Abenteuer mit dem Zirkusreiter hast und dich nach deinem schönen, warmen Schlösschen sehnst!«
»Ich glaube eher, du willst mir keine Antwort geben!«, schimpfe ich zurück.
»Was willst du mit meiner Antwort? Du hast dir deine Meinung doch schon längst gebildet!« Grob wirft er mir den Turnschuh zu, den ich gerade suche. »Aber eine Frau, die sich von ihren Vorurteilen leiten lässt, ist sicher nicht die richtige Partnerin um meinen Traum zu verwirklichen.«
»Pah, du merkst doch nur gerade, dass ich kein Geld dafür locker machen werde!«
»Dein Geld interessiert mich nicht! Hat das Fräulein Studentin denn überhaupt welches, hm?!«
»Weißt du was«, schreie ich, ohne auf die letzte Beleidigung einzugehen, »du hattest völlig recht, es ist besser, wir sehen uns nicht wieder. Nie wieder!«
Ich drehe mich einfach um, renne los.
»Helena! Warte doch!«, höre ich Bruno rufen, doch blind vor Tränen stolpere ich weiter. Bruno ist ja so gemein!

***

»Baronessa!« Sandros meckernde Stimme erreicht mich, als ich an meinem kleinen Wagen ankomme. Doch ich brauche mich nicht länger von dem Clown erpressen zu lassen. Soll er Bruno doch anzeigen, geschähe ihm recht.
»Verschwinde!«, brülle ich in die Nacht, springe in den Wagen und brause davon.
Unablässig rinnen mir auf der Fahrt nach Hause die Tränen über das Gesicht. Zu allem Übel wird es sich diesmal wohl kaum vermeiden lassen, dass meine Abwesenheit auffällt. So weit bin ich noch nie gefahren. Ich habe nicht mal eine Ausrede parat. Aber alles verblasst neben der Tatsache, dass es aus ist zwischen Bruno und mir. Für immer.
Bei dem Gedanken wird mir übel. Rasch lenke ich meinen kleinen Wagen an die Seite. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, aus dem Auto zu springen, bevor ich mich übergeben muss.
Würgend kauere ich einen ganze Weile am Straßenrand. Verdammt, ich hätte auf das hören sollen, was Bruno mir an unserem ersten Abend gesagt hat. Mein Herz ist gebrochen, wie sonst ist zu erklären, dass es mir so schlecht geht?
Schließlich rapple ich mich hoch und mache mich wieder auf den Weg. Denn obwohl es sich genauso anfühlt, werde ich wohl nicht an gebrochenem Herzen auf einer einsamen Landstraße sterben.

Natürlich lauern mir zu Hause nicht nur mein Vater, sondern auch Onkel Walter und seine Frau Irmgard auf. Entgegen meiner Hoffnung, dass der Onkel bald wieder abreist, hat er stattdessen auch noch seine Frau herkommen lassen. Die beiden scheinen wild entschlossen zu sein, so lange zu bleiben, bis ich wenigstens verlobt mit Sebastian von Eckerfelt bin.
»Wo kommst du denn jetzt her?«, will mein Onkel auch gleich wissen.
»Ich war feiern, in der Stadt«, sage ich nur lapidar. »Das machen Studenten gelegentlich. Ihr entschuldigt mich, in bin müde!«
»Also wirklich!«, sagt mein Onkel, wird jedoch ausnahmsweise von seiner Frau gebremst.
»Helena sieht nicht gut aus, lass sie doch«, meint sie leise.
Dann auch noch mein Vater, der mich nur traurig ansieht. Schlimmer kann ein Morgen nach der Trennung von der Liebe meines Lebens kaum verlaufen! Hastig flüchte ich in mein Zimmer. Mir ist schon wieder schlecht!

Müde lehne ich eine halbe Stunde später an der Badezimmerwand und presse einen feuchten Waschlappen auf mein geschwollenes Gesicht. Hatte ich nicht auch irgendwo eine kühlende Augencreme, die wäre doch jetzt genau das Richtige.
Ich kippe den Inhalt meines Kulturbeutels in das Waschbecken. Die Augencreme ist natürlich nicht zu sehen. Stattdessen fällt mein Blick auf eine Packung mit kleinen rosa Tabletten. Eine Packung, die eigentlich leer sein sollte.
Oh Gott. Nein, das kann nicht sein. Mir ist schlecht, weil ich die Trennung von Bruno so schwer nehme, aus keinem anderen Grund.
Zu allem Überfluss klopft nun auch noch jemand an die Badezimmertüre.
»Helena? Geht es dir gut?«
Es ist Irmgard, Gott sei Dank.
»Komm doch raus, ich habe dir einen Tee gekocht.«
Eigentlich ist die Tante ganz in Ordnung. Und ein Tee wäre jetzt wirklich schön. Ich stopfe die Sachen zurück in den Beutel. In meinem Zimmer hat Irmgard derweil das Bett aufgeschüttelt. Erleichtert schlüpfe ich hinein und nehme sogar einen Schluck von dem Tee.
Irmgard setzt sich auf meine Bettkante und streicht mir sanft die Haare aus der Stirn.
»Alles wird wieder gut, du wirst schon sehen«, meint sie. »Denk doch nochmal über Sebastian von Eckerfelt nach. Er ist wirklich ein netter junger Mann.«
Ach nee, nicht das Thema schon wieder!
»Ein bisschen langweilig vielleicht, aber mit der richtigen Frau an seiner Seite könnte sich das ja ändern. Ich glaube, er würde richtig aufblühen, wenn er erst eine eigene Familie hätte.«
Was?!
»Ja, ich denke, Sebastian wäre ein wunderbarer Vater. Eine Heirat wäre vielleicht für alle die beste Lösung.«
Äh, Moment mal, schlägt meine Tante mir gerade vor, dass ich Sebastian ein Kind unterschieben soll?! Ahnt sie etwas? Woher, wieso?! Ermattet lasse ich mich in meine Kissen sinken und schließe die Augen.
»Aber warte nicht zu lange«, murmelt Irmgard noch, dann verlässt sie leise das Zimmer. Das kann doch alles nicht wahr sein!

***

Ich werfe den Schwangerschaftstest aus der Apotheke in den Mülleimer. Ein leises Klacken ertönt, als er auf die anderen fünf Tests trifft, die bereits drin liegen. Schwanger, verkünden sie alle einhellig.
Aber eigentlich wusste ich das schon, bevor ich aufgebrochen bin, um möglichst weit entfernt von zu Hause verschiedene Apotheken aufzusuchen.
Dabei habe ich auch gleich die Gelegenheit genutzt, nach dem Zirkus Ausschau zu halten. Ich habe so ein komisches Gefühl, dass ich nicht ganz fair zu Bruno war. Vielleicht hätte ich mir ganz in Ruhe seine Sicht der Dinge anhören sollen? Schließlich hat er mich ja mit keinem Wort um Geld gebeten. Er wollte etwas mit mir zusammen aufbauen – und ich habe in nur beschimpft.
Was, wenn Sandro lügt? Oder Bruno seinen Fehler längst bereut?
Aber ich habe meine Chance vertan. Der Zirkus ist wie vom Erdboden verschluckt.
Doch das Kind, das will ich unbedingt. Florentina, nenne ich es bei mir. Ich bin mir einfach sicher, dass es ein Mädchen wird. Wie soll es aber für Florentina und mich weitergehen?
Bruno habe ich nachhaltig vergrault, er wird nie etwas von seinem Kind erfahren. Also kann ich es entweder als alleinerziehende Mutter mit meiner Doktorandenstelle versuchen oder ich probiere es mit Irmgards Vorschlag und Sebastian von Eckerfelt.
Ginge es nur um mich, keine Sekunde würde ich zögern und es lieber alleine schaffen. Aber was ist das Beste für das Baby? Will ich ihr wirklich die Zukunft verbauen, nur weil ich meinen Dickkopf durchsetzen muss? Oder ist eine Zukunft mit Eltern, die sich nicht lieben, gar nicht so rosig? Aber es heißt ja nicht, dass Sebastian und ich nicht so etwas wie – na, vielleicht Freunde werden könnten. Jemals einen anderen Mann als Bruno zu lieben, kann ich mir sowieso nicht vorstellen.
Ich starre aus dem Fenster und sehe in diesem Moment den Wagen der von Eckerfelts in unseren Hof einbiegen. Also gut, das Schicksal soll entscheiden.
Wenn Sebastian kein völliger Idiot ist – wovon ich zu seinen Gunsten mal ausgehe – muss ich ihn heute verführen, wenn er glauben soll, dass es sich um sein Kind handelt. Gelingt mir das, sind die Würfel gefallen, und ich stimme einer Verlobung zu. Anderenfalls werde ich es auch allein schaffen. Ich straffe die Schultern und mache mich auf den Weg nach unten, um unseren Besuch zu begrüßen.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich mich das letzte Mal so zickig benommen habe«, sage ich so unterwürfig, wie ich nur kann. Tatsächlich habe ich es geschafft, Sebastian zu einem kleinen Spaziergang im Park zu überreden. Unauffällig versuche ich, den Pavillon anzusteuern – dort wären wir sicher ungestört.
»Eine Dame sollte nicht solche Dinge sagen«, mäkelt Sebastian noch ein bisschen herum.
Ich finde ja, er hätte ebenso viele Gründe, sich zu entschuldigen, wie ich. Oder hat er mich etwa nicht als nicht mehr die Jüngste bezeichnet?
»Ich war einfach so überrascht über deinen Antrag«, sage ich dennoch brav.
»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir auch nicht die Wertschätzung entgegengebracht, die du verdient hast«, räumt er ein. »Dafür möchte ich mich ebenfalls in aller Form entschuldigen.«
Überrascht bleibe ich stehen und sehe ihn mit großen Augen an. Irmgard hatte Recht, er ist eigentlich ein ganz netter Kerl. Vielleicht war er das letzte Mal einfach nur sehr aufgeregt? Ich sollte die günstige Gelegenheit nutzen und ihn küssen. Entschlossen lege ich meine Hände auf seine Brust.
»Vielleicht sollten wir einfach nochmal von vorne anfangen?«, schlage ich vor, lege den Kopf zurück und öffne die Lippen leicht.
»Äh … gerne!«, murmelt er.
Na, da hat das Schicksal aber noch einiges zu tun, wenn das klappen soll. Nicht nur, dass Sebastian offenbar nicht recht weiß, was er mit meiner plötzlichen Anschmiegsamkeit anfangen soll, am liebsten würde ich ihn wegstoßen. Wie anderes hat es sich angefühlt, Bruno so nahe zu sein!
»Was soll das werden?«, ertönt plötzlich eine scharfe Stimme.
Wir fahren auseinander.
Doch anstatt dass wir uns nun meinem Vater oder Onkel Walter gegenüber sehen, steht direkt neben mir der Mann meiner Träume. Bruno.
Und er sieht stinksauer aus.