Der Zirkusreiter – Teil 5

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Fünfter Teil

»Aber natürlich muss niemand etwas hiervon erfahren«, fährt Sandro fort und reibt auffordernd Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand aneinander.
Alles klar, er will Geld. Da ist er aber mal an die Falsche geraten, eine von Thannhofen lässt sich doch nicht von so einem dahergelaufenen … Clown erpressen!
»Wir befinden uns nicht mehr um Mittelalter, das interessiert niemand, vergiss es einfach!«
Obwohl mir in dem Augenblick einfällt, dass morgen der sauertöpfische Bruder meines Vaters – mein Onkel Walter – zu Besuch kommt. Wird schwer genug werden, pünktlich hier zu sein, auch ohne dass Gerüchte grassieren, ich hätte eine Affäre mit einem Zirkusreiter.
Sandro zuckt lässig mit den Schultern.
»Na, vielleicht hat sich euer Treffen morgen sowieso erledigt. Ich bin da auf was Interessantes gestoßen. Brunelli hatte in Italien eine Affäre mit einer Witwe – statt mit ihr ist er mit ihrem Geld durchgebrannt. Ich kann es nicht länger mit meinem Gewissen vereinbaren, dass Bruno damit durchkommt. Schätze, er wird morgen in einer Zelle sitzen, anstatt sich in einer Scheune zu vergnügen!«
»Du lügst!«, zische ich.
»Könnte natürlich sein.« Er grinst frech. »Aber ist es dir gar nicht komisch vorgekommen, dass er mit seinen tollen Rappen in einem abgefuckten Zirkus wie unserem auftritt?«
Ich beiße mir auf die Lippe. Nein, bisher habe ich keinen Gedanken daran verschwendet. Aber nun, da Sandro darauf hinweist, kommt es mir tatsächlich komisch vor.
»Aber vielleicht ist es ja doch nur ein Missverständnis, und die Witwe lügt das Blaue vom Himmel herunter. Wenn meine Mühen entlohnt werden, würde ich da nochmal nachhaken …«
Ich wäge die Optionen ab. Sandro will Geld von mir, ansonsten wird er mir das Treffen mit Bruno morgen versauen – auf die eine oder andere Weise.
»Was soll das denn kosten?«, frage ich möglichst unbeteiligt.
»Für dich gibt es einen Sonderpreis, Baronessa!«
Er grinst verschlagen. Der Mistkerl weiß genau, dass er gewonnen hat.
»2000 Mark«, sagt er.
»Was?«, krächze ich. Spinnt der?
»Ich nehme auch einen Teil in Naturalien.« Er leckt sich die Lippen und mustert mich frech. Ich balle die Hände zu Fäusten und bebe vor Anstrengung, ihm keine reinzuhauen.
»Also gut«, sage ich tonlos. »2000 Mark.«
Sandro lacht scheppernd.
»Wusste ich doch, dass du vernünftig bist. Wir treffen uns morgen Vormittag um zehn Uhr hier.«
Damit dreht auch er sich um und entschwindet in der Nacht. Ich kämpfe mit den Tränen. So ein Mistkerl! Andererseits – was soll das Geld auf dem Sparbuch? Ich will Bruno unbedingt wiedersehen. Dass er ein Dieb sein soll, kann ich auch nicht glauben. Wenn ich mich nur noch einmal mit ihm treffen kann, dann wird sich sicher alles aufklären!

***

»… deshalb wäre Sebastian von Eckerfelt eine gute Wahl«, sagt Onkel Walter salbungsvoll.
Ich verdrehe heimlich die Augen, bevor ich mich zu einem gezwungenen Lächeln durchringe. Seit mein Onkel eingetroffen ist, geht das nun schon so. Mit allen Mitteln versucht er, mir Sebastian schmackhaft zu machen. Ob es ihm dabei wohl um mein Glück geht? Ich glaube eher, dass er fürchtet, ich würde das Erbe der Familie irgendwann allein antreten. Ohne einen Mann an meiner Seite, der auf mich aufpasst, wie schrecklich!
Na, wenigstens muss ich mich nicht sehr bemühen, die Kopfschmerzen vorzutäuschen, die ich gleich als Ausrede vorbringen werde, um mich zurückziehen zu können. Es ist eher ein Wunder, dass ich von dem Geschwafel kein Kopfweh bekomme!
In Wahrheit werde ich mich natürlich davonschleichen und Bruno zu sehen. Ich kann es kaum erwarten, wieder in seinen Armen zu liegen. Ein kleines Lächeln schleicht sich in mein Gesicht.
»Na siehst du, ich wusste ja, dass du vernünftig bist. Du wirst sehen, dass Treffen in drei Wochen wird sehr viel angenehmer werden. Sebastian ist eben ein ungestümer junger Mann, dem können schon mal die Pferde durchgehen.«
Was?! Erschrocken reiße ich die Augen auf. Wenn man einmal nicht aufpasst! Offenbar hat Onkel Walter mein Lächeln als Zustimmung zu einem Wiedersehen mit Sebastian gewertet. Dass ich nicht lache, ungestümer junger Mann. Pah. Aber jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen, hält mich nur unnötig auf.
»Wir werden sehen«, sage ich deshalb vage, und beschließe, meinen Vater zu überreden die von Eckerfelts wieder auszuladen, sobald mein Onkel wieder abgereist ist.
»Aber ihr entschuldigt mich jetzt bitte. Ich habe heute viel gelernt und jetzt plagen mich Kopfschmerzen.«
Ich bin schon halb zur Türe hinaus, höre aber dennoch, wie Onkel Walter sich bei meinem Vater über die Sinnlosigkeit meines Studiums beschwert. Aber egal, für mich zählt jetzt nur noch Bruno!

***

Unsere Münder verschmelzen schon miteinander, kaum dass wir einander gegenüberstehen. Bruno umschlingt mich mit seinen starken Armen und schamlos presse ich mich an ihn. Erst nach endlosen Minuten lassen wir wieder voneinander ab. Verlegen sammle ich die Decke und die Kissen ein, die ich einfach fallen gelassen habe, als ich Bruno bemerkt habe. Hand in Hand gehen wir zum Tor der Scheune.
»Sind die Pferde versorgt?«, frage ich leise.
»Oh ja. Ich werde mir sehr viel Zeit für dich nehmen!«, raunt er verheißungsvoll.
Doch wie ein giftiger, kleiner Stachel sitzen Sandros Worte noch immer in meinem Herzen.
»Deine Show ist so toll, du könntest sicher auch in einem größeren Zirkus damit auftreten«, sage ich möglichst harmlos.
»Sei froh, dass ich es nicht tue, sonst wären wir uns nie begegnet.«
»Aber du könntest so viel mehr erreichen«, meine ich und schließe das Scheunentor hinter uns.
Bruno packt mich, wirbelt mich herum und drückt mich gegen das raue Holz.
»Ich entscheide, was gut für mich und meine Pferde ist«, knurrt er erregt. »Und ich entscheide, dass du dir nun lange genug den Kopf über meine Angelegenheiten zerbrochen hast!«
Meine Knie werden weich, als er ein dünnes Seil aus seiner Hosentasche zieht. Einen flüchtigen Augenblick erwäge ich noch, das Thema weiterzuverfolgen – aber ist es wirklich so wichtig? Nach dieser Nacht werde ich Bruno vielleicht nie wieder sehen, was bedeutet da seine Vergangenheit?
Ich muss nicht fragen, was er vorhat. Bebend strecke ich meine Hände aus. Mit einem triumphierenden Lächeln fesselt er sie aneinander.
Alles andere ist vergessen, während ich hilflos zulassen muss, dass Bruno mir die Klamotten vom Leib reißt und mich das Spiel seiner Hände auf meinem Körper mühelos in ungeahnte Höhen katapultiert.

***

»Wir dürfen uns nicht wiedersehen!«
Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz höre. Längst ist der Zirkus weitergezogen. Doch meine regelmäßigen Beiträge zu Sandros ›Recherche‹ bringen mir zusätzlich hilfreiche Tipps ein, wo der Zirkus als nächstes Station macht. Derweil schmilzt das Guthaben auf meinem Sparbuch dahin wie Eis in der Sonne.
»Ja, du hast recht«, sage ich kleinlaut und presse meinen nackten Körper an seinen.
Niemals habe ich Sex so genossen, wie mit Bruno. Ja, es kommt mir so vor, als hätte ich zuvor nie wirklich Sex gehabt. Er ist wild, bestimmend und manchmal so heftig, dass es schmerzt – was mich nur noch mehr in Ektase versetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, den Rest meines Lebens darauf zu verzichten.
Längst geht es aber nicht nur um meine schier unstillbare Gier nach seinem Körper – auch der Mann Bruno Brunelli fasziniert mich immer mehr. Doch die wenigen gestohlen Stunden sind immer wie im Flug vorbei, lassen uns kaum Zeit, uns richtig kennenzulernen. Wir schaffen es kaum, einander zu begrüßen, dann fallen wir auch schon übereinander her.
»Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, dass wir zusammen sein können«, sage ich vorsichtig.
Wenn er mir nur die Wahrheit sagt, dann gibt es doch für alles eine Lösung, oder?
»Du hast etwas Besseres verdient«, stößt Bruno hervor und springt auf.
In dieser Nacht haben wir uns auf einer kleinen Lichtung in einem Waldstück geliebt. Im sanften Mondlicht sieht sein wunderbarer Körper aus wie gemeißelt. Bewundernd sehe ich zu ihm auf.
»Wo soll das hinführen? Willst du wirklich alles hinter dir lassen und in meinem winzigen Wohnwagen mit mir leben? Oder meinst du, der Herr Baron von Thannhofen lädt mich und meine Pferde in euer Schlösschen ein und lässt mich meine Vorstellungen zukünftig um Schlosshof zeigen?«
»Nein, dass nicht gerade«, gebe ich zu. »Aber wenn du nur ehrlich zu mir bist, finden wir einen Weg.«
Er setzt sich wieder zu mir, streichelt liebevoll meine Wange.
»Ich bin ehrlich zu dir«, sagt er ernst.
Ich überlege noch, wie ich ihn nun am besten auf die Geschichte mit der Witwe ansprechen soll. Bei meinem letzten Treffen mit Sandro hat der Clown behauptet, Bruno hätte der Witwe vorgemacht, er wolle mit ihr ein neues Leben anfangen, sei dann jedoch mit dem dafür vorgesehenem Geld – ihrem Geld – verschwunden. Wie bringe ich nun Bruno bei, dass ich davon weiß? Doch der spricht schon weiter.
»Ich wünsche mir auch nichts mehr als eine gemeinsame Zukunft. Du hattest ja recht, es gäbe bessere Möglichkeiten als den ollen Zirkus, in dem ich gerade auftrete. Soll ich dir von meinen Traum erzählen?«
Ich nicke vorsichtig.
»Eine eigene Show, nur mit Pferden. Kein Zirkus im herkömmlichen Sinne, sondern eine Mischung aus Theaterstück und Zirkusvorstellung. Den Zuschauern wird eine Geschichte erzählt, in der die Pferde die Hauptrolle spielen. Der Auftritt von anderen Artisten kann da ganz einfach in die einzelnen Szenen eingebaut werden.«
Bruno scheint diese Idee schon länger zu verfolgen. Ganz genau erklärt er mir, wie er sich das vorgestellt hat.
»Wie findest du das?«, fragt er mich schließlich gespannt.
»Dafür wären ziemlich große Investitionen notwendig«, meine ich.
Er winkt ab.
»Geld! Darum geht es doch jetzt nicht. Ich frage mich, ob du mit meiner Vision etwas anfangen kannst! Kannst du dir vorstellen, so etwas mit mir zusammen auf die Beine zu stellen?«
»Ich finde, die Finanzierung ist schon ein Thema. Was soll ich mit einem Traum, die niemals Wirklichkeit werden kann?«
Dabei finde ich die Idee toll. Aber ich fürchte, dass er sie mir in der Hoffnung erzählt, dass ich irgendwie Geld dafür locker machen kann. Und dass er mich dann ebenso sitzen lässt wie diese Witwe in Italien.
»So ist das also.« Ganz deutlich höre ich seine Enttäuschung. »Dabei dachte ich einen Moment tatsächlich, es sei dir nicht wichtig, den Rest deines Lebens möglichst bequem und gut versorgt zu verbringen.«
»Darum geht es mir doch gar nicht!«, sage ich beleidigt.
»Ach nein? Worum geht es dir denn, Helena?!«
»Mir wäre es egal, wenn ich den Rest meines Lebens in einem Wohnwagen leben müsste«, sage ich heftig. »Aber ich weiß nicht, ob du der Richtige dafür bist.«
»Aha? Woher kommen wohl die plötzlichen Zweifel?«
»Ich weiß, dass du ein Dieb bist!«