Erster Teil
»Ich kann nicht mehr ohne dich leben Helena. Komm mit mir nach Troja!«
»Ich folge dir bis ans Ende der Welt, wenn es sein muss«, entgegne ich.
Prinz Paris belohnt mich mit einem hinreißenden Lächeln und hilft mir in den Sattel meines weißen Araberhengstes Aaron. Dann schwingt er sich ebenfalls aufs Pferd und reicht mir seine Hand. Die Finger zärtlich ineinander verschränkt reiten wir nebeneinander davon. Der Zorn der Götter, die Möglichkeit, dass unser Handeln einen Krieg heraufbeschwören könnte – nichts von all dem ist im Augenblick von Bedeutung. Wichtig ist nur, dass dieser umwerfende Mann mir seine unsterbliche Liebe gestanden hat. Doch an der nächsten Weggabelung stellt sich ein brüllendes Monster in unseren Weg und …
… hupt. Laut.
Aaron rammt alle vier Hufe in den Boden. Gerade noch rechtzeitig, um den Bauern Moser auf seinem riesigen Traktor nicht in die Quere zu kommen – der zugegebenermaßen Vorfahrt hat.
»Nicht träumen, Fräulein Helena«, brüllt der Fahrer noch.
Ich mache erst gar keinen Versuch, gegen den Lärm des Motors anzuschreien und winke nur zum Zeichen, dass alles in Ordnung ist. Dann tätschle ich lobend Aarons Hals. Ein bisschen ein schlechtes Gewissen habe ich ja schon, dass ich mir gerade einen rassigen Hengst herbeigeträumt habe – der wäre bei dem Lärm, den Bauer Mosers gewaltiges Gefährt macht, garantiert durchgegangen und hätte mich in den nächstbesten Graben befördert. Aaron dagegen ist ein zuverlässiges Norwegerpony, dass mich sowie meine Freundin und Cousine Lotti – eigentlich Lieselotte – seit Jahren sicher durch die Gegend trägt. Aaron steht zudem im Stall des Bauern Moser, der wusste also ganz genau, dass sein Fahrmanöver keine gefährliche Situation heraufbeschwören würde. Kein Grund also anzunehmen, der Landwirt wolle sich reichlich verspätet einem Bauernaufstand gegen die Aristokratie anschließen.
Bevor ich mich in der Vorstellung eines rassigeren Revolutionärs als es der Bauer Moser wäre verliere, gebe ich Aaron durch leichten Schenkeldruck zu verstehen, dass es weitergehen kann. Am besten, ich genieße den Ausritt vorerst im Hier und Jetzt. Auch wenn das bedeutet, dass anstelle der schönen Helena auf dem weißen Hengst eine reichlich verwaschene Version der Sagengestalt auf einem Pony unterwegs ist. Von einem heißblütigen Prinzen ist natürlich auch nichts zu sehen.
Aber vielleicht wird sich das ja heute Abend ändern. Schließlich sind Sebastian von Eckerfelt und seine Mutter zum Essen eingeladen. Wie süß von meinem Vater zu glauben, er müsse mir langsam einen Ehemann besorgen. Was natürlich unnötig ist, schließlich werde ich demnächst mein Studium der englischen Literaturwissenschaften abschließen und eine Doktorandenstelle antreten. Auch ohne Mann wird mir also nicht so schnell langweilig.
Was nicht heißt, dass ich mir diesen Sebastian nicht mal ansehen werde. Schließlich waren meine bisherigen Beziehungen durchweg ein Reinfall. Vielleicht ähnelt Sebastian wenigstens ein klein wenig dem Prinzen Paris? Zu dumm, dass ich mich kaum an Sebastian erinnern kann. Als wir noch Kinder und meine Mutter noch am Leben war, war die Familie von Eckerfelt häufiger zu Besuch. Bleibenden Eindruck hat der mögliche Bräutigam bei mir allerdings nicht hinterlassen.
Aaron und ich lassen die Felder hinter uns und biegen auf einen wunderschönen Waldweg ein. Begeistert lasse ich das Pony angaloppieren und schaffe es tatsächlich, historische Prinzen und gegenwärtige Barone erst mal aus meinen Gedanken zu verbannen.
***
»Reichst du mir bitte das Salz?«
»Sehr gerne.«
Ich gebe meinem Vater den Salzstreuer. Leider lässt sich nicht leugnen, dass die Unterhaltung beim Dinner eher schleppend verläuft. Nicht ganz unschuldig an dieser Tatsache ist, dass die Baronin von Eckerfelt offenbar nicht besonders gut hört. Vielleicht will sie das nicht wahrhaben, oder sie hält ein Hörgerät für unelegant – auf jeden Fall trägt sie keines. Was eine stilvolle Konversation ziemlich erschwert.
»Die Wurftechnik ist beim Fliegenfischen von elementarer Bedeutung«, erklärt mein Vater derweil und greift damit das von ihm zuvor angeschnitten Thema wieder auf.
Die Baronin blinzelt irritiert, um dann zu entgegnen: »Unsere Labradorhündin erwartet auch ihren ersten Wurf.«
Ich habe Mühe, mir ein Lachen zu verkneifen. Sebastian sitzt mir direkt gegenüber, und ich will ihm schon verschwörerisch zuzwinkern. Doch scheinbar ist unserem Gast das Gespräch peinlich, betreten starrt er auf seinen Teller. Dabei wirkt mein Vater mit seiner festen Überzeugung, dass jeder von der meditativen Kraft des Fliegenfischens profitieren könnte – egal ob es sich um den Bauern Moser oder eine schwerhörige Baronin handelt – ebenso verschroben wie seine Mutter. Ich beschließe, Sebastian eine kleine Auszeit zu verschaffen.
»Es ist furchtbar heiß hier drin«, sage ich zu ihm. »Würdest du mich wohl kurz an die frische Luft begleiten?«
»Selbstverständlich!«
Sebastian kann gar nicht schnell genug aufspringen, was die Gläser vor ihm auf den Tisch gefährlich ins Wanken bringt. Ich verdrehe innerlich die Augen, schaffe es jedoch zu lächeln, als er mit galant seinen Arm reicht.
Eigentlich sähe er ja ganz nett aus, wenn er sich nicht so offensichtlich unwohl fühlen würde. Wobei Lotti jetzt sicher wieder sagen würde ›nett ist die kleine Schwester von Scheiße‹. Zugegeben – Lotti schleppt immer total heiße Typen an. Die Partys der Physiker seinen ein echter Geheimtipp, behauptet sie. Vielleicht sollte ich mich da auch mal umsehen, sobald das neue Semester begonnen hat. Dieser Sebastian ist jedenfalls nichts für mich. Allerdings war bei Lottis Eroberungen der Mann fürs Leben auch noch nicht dabei.
»Ich … ich muss dir was sagen«, stammelt Sebastian plötzlich. Wir haben das Ende der Terrasse erreicht und ich lächle ihm aufmunternd zu. Sicher wird er mir nun gleich von seiner Freundin erzählen, und wir können über die schrulligen Pläne unserer Eltern lachen.
»Willst du meine Frau werden?«, fragt er.
Ich starre ihn mit offenem Mund an.